Der Kampf um Fachkräfte – ohne Umdenken wird das nichts
Gibt es den Fachkräftemangel wirklich?

Der Kampf um Fachkräfte – ohne Umdenken wird das nichts

Fachkräftemangel, Kampf um die Besten, Wettbewerb um Talente … kaum ein Thema aus der Arbeitswelt ist medial derart präsent und wird aktuell so häufig durch die Gazetten gejagt, wie dieses. Auch wenn das Thema auf den ersten Blick einleuchtend erscheint, so wirkt es auf den zweiten auch merkwürdig.

Medien, Wirtschaft und Politik, sie alle beschwören ihn mit Nachdruck, den ‚Kampf um Fachkräfte‘. Doch kann man ihnen glauben, dass sie wirklich immer meinen, was sie sagen? Verfolgt man das Thema nämlich näher, drängt sich meiner Wahrnehmung nach schnell der Eindruck auf, dass es in Wahrheit mehr um einen Kampf um junge – und damit billige?- Arbeitskräfte geht, als um den um wirkliche Fachkräfte. Aus welchen Gründen auch immer wird die Gruppe der ‚Älteren‘ bei der Suche nach einer Lösung des sogenannten ‚Fachkräftemangels‘ herausgehalten und damit vielerlei Chancen vertan.

Zwar zeigt die demographische Entwicklung, dass weniger junge Menschen in das Erwerbsleben nachrücken, doch heißt das noch lange nicht, dass ein akuter Mangel an Fachkräften nicht durch eine wesentlich bessere Nutzung der vorhandenen Potenziale erheblich gemindert werden könnte – sofern die Beteiligten wirklich wollten und Ihre Einstellungen und Vorgehensweisen den herrschenden Bedingungen anpassen würden.

Es waren zwei Königskinder … sie konnten beisammen nicht kommen.

Verteilungs- und strukturelle sowie organisatorische Probleme liegen in vielen Regionen und Unternehmen dem vermeintlichen Mangel an Fachkräften in größerer Zahl zugrunde, als man auf den ersten Blick vermuten mag. So basiert die Misere vielfach nicht darauf, dass es die notwendigen Qualifikationen gesamt betrachtet nicht gäbe, sondern vielmehr darauf, dass es sie nicht in ausreichender Zahl am gewünschten Ort zur rechten Zeit gibt. Das stellt natürlich für die betreffenden Regionen mit ihren Unternehmen eine Herausforderung dar, wird aber durch die Unterstellung eines pauschalen Fachkräftemangels nicht richtig charakterisiert.

Darüber hinaus verhindern formale und prozessbedingte Rahmenbedingungen, nicht selten sogar durch die Unternehmen selbst erzeugt, es in nicht wenigen Fällen potentielle Mitarbeiter für sich zu gewinnen, obwohl diese über die notwendige Expertise, Erfahrung und zeitliche wie regionale Flexibilität verfügen würden. Wer da über welchen Schatten als erstes springen sollte, muss jeder für sich selbst entscheiden.

Manche sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht
Die eigenen Grenzen des Denkens verstellen oft den Blick auf das Mögliche

Sicher sind zwei Dinge : Erstens ist das Qualifikationsniveau der Erwerbstätigen in Deutschland in den letzten Jahrzehnten über alle Altersgruppen hinweg stärker gestiegen, als es in der Diskussion den Anschein hat und zweitens wird eine Gruppe, nämlich die der über 45-Jährigen, in der Betrachtung mehr vernachlässigt, als es qualitativ wie quantitativ sinnvoll ist.

Zieht man zum Beispiel als Kriterium für das Niveau der Qualifikation und des Wissens in Deutschland die prozentuale Anzahl der Art der Schulabschlüsse verschiedener Altersgruppen heran, stellt man fest, dass der Anteil derjenigen, die über die höchste schulische Qualifikation in Form einer Fachhochschul- bzw. Hochschulreife verfügen, sich von 17,5 % bei den heute über 65-Jährigen auf mehr als 33,1% bei den 45-54-Jährigen fast verdoppelt hat und eine stark zunehmende Tendenz bis auf aktuell 50,6% bei den heute 25-35-Jährigen aufweist. Da allgemein von fehlender Qualifikation und Mangel an Fachkräften oder Spezialisten zu sprechen, fällt mir doch schwer.

Zusätzlich zeigt sich bei der Analyse der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland Interessantes. So hat die Anzahl der Erwerbstätigen in der Altersgruppe der 45-65-Jährigen zwischen 2001 und 2016 von 12,82 Mio. auf 20,15 Mio. zugenommen und steht damit in einem deutlichen Gegensatz zu der Entwicklung bei den 25-44-Jährigen, deren Zahl von 20,03 Mio. in 2001 auf 17,38 Mio. in 2016 gesunken ist.

Zu einer weiteren Erhöhung der zahlenmäßigen Gegensätze zugunsten der über 45-Jährigen trägt darüber hinaus die Verschiebung der Regelaltersgrenze für den Renteneintritt auf 67 für nach 1964 Geborene bei. Denn in der Statistik bleibt bei der Kategorisierung der Bevölkerung nach Alter bei einer Eingruppierung von ’45-65 Jahre‘ leider unberücksichtigt, dass nach 1964 Geborene erst 2 Jahre später als früher üblich abschlagsfrei in Rente gehen können. Demnach würde eine Ausweitung der Betrachtung auf die Altersgruppe ’45 bis 67 Jahre‘ wesentlich mehr der Realität entsprechen und die Zahl der Erwerbstätigen über 45 statistisch noch einmal bemerkenswert ansteigen lassen. Auch gerät aus dem Blick, dass die in früheren Generationen gern genutzten Frühverrentungs- bzw. Vorruhestandsprogramme ab 58 inzwischen weitestgehend weggefallen sind und sich damit die Lebensarbeitszeit für die geburtenstarken Jahrgänge nach 1960 automatisch insgesamt entscheidend verlängert hat.

Das heißt, dass zahlenmäßig die Altersgruppe der 45-67-Jährigen nicht nur die weitaus meisten Erwerbstätigen in Deutschland stellt, sondern auch noch die Gruppe stellt, die in ihrem Gros (11,3 Mio. 45-54-Jährige) noch mindestens zwischen 22 und 13 Jahren bis zum Erreichen der Rente arbeiten will, kann und zumeist auch muss; sofern nicht gar darüber hinaus.

Das in dieser Erwerbstätigengruppe steckende Potential an Wissen und Erfahrung beim Werben um Fachkräfte zu vernachlässigen, erscheint mir fatal. Genauso wie ihnen unisono Wechselunwilligkeit, Unflexibilität oder Lernverweigerung zu unterstellen. Ein Umdenken bezüglich und innerhalb dieser Gruppe größtenteils Hochqualifizierter ist zwingend erforderlich. Gerade vor dem Hintergrund moderner Arbeitsbedingungen und der weiteren Verlagerung weg von körperlicher hin zu kognitiv geprägter Arbeit muss es möglich sein, den zukünftigen Verlauf von Erwerbs- und Lebensbiographien weiter zu dynamisieren und Neuausrichtungen in einem Alter von über 45 eher zur Regel als zur Ausnahme werden zu lassen. Dazu allerdings müssten sich alle Seiten vermehrt trauen, aufeinander zu zugehen und Bewahrungsdenken beiseite zu schieben.